Die Städte und die Augen 5
Sobald der Mensch den „Paß überstiegen hat“ sieht er Moriana mit „ihren Villen ganz aus Glas, wie Aquarien“, einen prestigeträchtigen, ansehnlichen Ort. Doch die Erfahrung des Reisenden lässt ihn ahnen, „dass Städte wie diese eine Kehrseite haben: Man braucht nur einen Bogen zu gehen und hat schon Morianas verborgenes Gesicht vor Augen“. Auf dieser Stadtrückseite findet sich „eine Fläche mit verrostetem Blech, […] nägelbespickten Balken, ruß- schwarzen Rohren, […] Stuhlgerippen ohne Flechtsitze“.
[…] Sie sind wie eine Maske, eine Kulissse mit zwei Seiten, dessen Schwelle jedoch keine Dichte besitzt. Ein Gesicht und ein verborgenes Gesicht, denen es unmöglich ist, sich anzusehen. So schlagen wir den Bogen: Moriana ist der doppelgesichtige Janus. Als römischer Gott der Tore und Schwellen, so wie der Ein- und Ausgänge, ist er laut Ovids Überlieferung Herrscher über die Heiligtümer in Rom, die über besondere Torbögen verfügten. Einer der wichtigsten Torbauten war das Heiligtum des Ianus Gemini, des doppelten Janus auf dem Forum Romanum. Waren die Geminae Belli Portae, die Doppeltüren des Krieges, geöffnet, so herrschte Krieg im Römischen Reich. Auch zeigt sich Janus als Zugang zu den Gottheiten. Er ist demnach die Schwelle zweier Welten und Symbol für Anfang und Ende.
[…] Wir suchen nach der Gleichzeitigkeit der zwei fremden Gesichter, die ohne Berührung oder Schnittstelle funktioniert – einer parallelen Koexistenz innerhalb derselben Stadtmauern, desselben Gebäudes, und desselben architektonischen Elements, die eindimensional bleibt. […] Calvino und Janus sprechen über die Kulisse.
Esther Ruholl, Emily Schlatter & Ira Weglau