Die Städte und die Toten 1
Im Dialog sehen die Bewohner Melanias den großen Sinn des
Zusammenlebens und auf der Bühne, dem zentralen Platz, findet
dieses Leben statt. So denken sie zumindest und so haben sie ihre
Stadt gebaut. An einem Berghang gelegen strebt Melania wie ein
griechisches Theater der Orchestra zu. Das Zentrum der Stadt
liegt also eben nicht in seiner Mitte. Von dort aus aufsteigend
erheben sich, analog zum Theatron, die Wohnviertel der Bürger.
Die Gassen und Häuser der Stadt spielen für sie jedoch
eigentlich keine Rolle: Sie sind nur die Tribüne, der Ort an dem
man sich vorübergehend einrichtet, um das Theaterstück zu
schauen, oder von dem aus man loszieht, um seine Rolle zu
spielen. Diese Denkweise führt zu einem besonderen Umgang
der Bewohner mit ihrer Stadt.
Denn die Bewohner Melanias sind außerdem gesegnet und
verflucht zugleich mit einer Art von Amnesie: Wann immer
sie ihre Rolle im Stadtgefüge wechseln, und damit mitunter
zugleich ihren Wohnsitz, schauen sie auch mit einem neuen
Blick auf ihre Umwelt. Unbeeindruckt von den Anstrengungen
ihrer Vorgänger oder Vorvorgänger und immun gegen jede Art
von Sentimentalität blicken sie sich um und richten sich ein.
Dabei fiele es ihnen nicht ein, ihre neue Bleibe abzureißen und
neu zu bauen. Zu schnell könnte ihre Rolle neu vergeben werden
und dann müssen sie weiterziehen. Und ohnehin spielt das
wahre Leben für sie auf der großen Bühne statt, dem zentralen,
dezentralen Platz. Dorthin richtet sich ihre Aufmerksamkeit. […]
Leon van Ouwerkerk, Dennis Sommer & Laurin Toussaint